„Warum unsere Studenten so angepasst sind“.

Es ist ein schmales Büchlein, das da vor mir liegt. Es gleicht eher einer Reclamausgabe, ist aber im Rowohltverlag erschienen und: hat es in sich! Ohne mein Fazit vorwegnehmen zu wollen, die Analyse des deutschen Bildungssystems ist ausgezeichnet vorgenommen und ich möchte am liebsten das Buch zur Pflichtlektüre aller Bildungsverantwortlichen machen, ohne, dass man oder frau in allen Aspekten die Meinung der Autorin teilen muss. Denn das Gegenteil, was Chr. Florin mit diesem Buch bezwecken möchte, ist Angepasstheit. Aber die, so ihre Ausführungen, verlangt das heutige Bildungssystem nur zu sehr und die Arbeitgeber auch. Und die Studierenden, um die wir uns gemäß aller demographischen Voraussagen, bald alle streiten werden, sind, so Florin, so sehr mit ihren Creditpoints befasst, dass sie sich die Freiheit und Muße der Meinungsbildung, wie sie das Humboldtsche Bildungsideal vorsieht, kaum nehmen (können). Es auch gar nicht mehr gelernt haben. „Warum unsere Studenten so angepasst sind?“ ist Teil meiner Bücherliste 2015 und ich war schon sehr gespannt, denn die Autorin ist vielversprechend. Das weiss ich, seit ich mit Christiane Florin auf Facebook vernetzt bin und der Redaktionsleiterin von Christ und die Welt  mit Interesse folge. Nun hat sie also ein Buch über ihre Erfahrungen als Lehrende für Politikwissenschaften an der Universität Bonn geschrieben. Ich interessiere mich im Rahmen unseres Projektes „Wir denken Bildung weiter für das Buch. Hier beschäftigen wir uns vor allem mit der Frage, wie Menschen mit formal-niedriger Bildung Anschluss finden bzw. halten können.

Ohne Debatte keine Demokratie – ohne Streitkultur keine Bildung?

Aus der Perspektive unseres Bildungsprojektes fasziniert mich die Synthese zwischen Politik- und Bildungswissenschaften. Und dabei immer wieder der Dreh- und Angelpunkt der (fehlenden) Streitkultur. Anhand der nachfolgenden Zitate wird deutlich, dass das verschulte Lernen, das der Bologna-Prozess nach sich gezogen hat, die klassische Bildung der Antike zunehmend vernachlässigt. Studierende setzen sich nach Meinung von Florin nicht mehr mit der Materie auseinander: „ Das Studium ist kurzatmig geworden. Es verleitet zum bulimischen Lernen: Der Stoff wird schnell verschlungen, kaum verdaut und bei Prüfung schwallartig von sich gegeben. Vom Gelernten bleibt wenig hängen, zu wenig auf jeden Fall, um Zusammenhänge zu erkennen.“* 

Kein Wunder, dass Filme wie Alphabet erst wieder mühsam deutlich machen müssen, worum es bei ganzheitlicher Bildung eigentlich geht und, dass diese nicht zwingend Kapitalisierung durch Arbeit anstrebt, sondern die Weiterentwicklung der Menschheit, des Menschen. „Sinn und Nutzen sind deckungsgleich geworden, und gerade deshalb klafft eine Bildungslücke. Studenten erwarten, dass Wissen sofort verwertbar ist. Eine klassische universitäre Ausbildung dagegen, die nicht nur Ausbildung sein will, lässt auch zunächst unbrauchbar scheinende Gedanken zu.“

„Viele der heute 20-jährigen haben als Kinder der Neunziger ein ausgefeiltes Langeweileprogramm von Ausdruckstanz- bis Zauberunterricht durchlaufen…Ein Moment nachdenklicher Stille im Seminarraum wirkt auf sie wie eine Ton- und Bildstörung.“

„Mein Sohn, gerade neun, hat in seiner Grundschule ein Zimmer mit Wasserbett und farbigen Lichtern. „Snoezeln“ heißt das Konzept, die Kinder entspannen in diesem Ambiente also pädagogisch wertvoll… Die Kinder, insbesondere die Jungs, sollen beim Snoezeln runterkommen vom Stress eines Drittklässleralltags zwischen Gymnasialempfehlungsrattenrennen und Notenvermeidungspädagogik.“

„Originaltexte stehen im Verdacht, Originalitätsbremsen für die Genies von heute zu sein.“

„Ordern Sie eine Bachelorarbeit zum TV-Duell Schröder-Stoiber, wir liefern es Ihnen pünktlich und auf die Seitenzahl genau…. Okaysein ist das oberste Lernziel.“

Ist Bildung zweitklassiger geworden, weil nicht alle beteiligt werden?

Nicht nur für das Gros der heute Studierenden ist das eine tragische Entwicklung, sondern besonders für die Gruppe von jungen Menschen, die im 20. Sozialbericht als „mit niedrigem formalen Bildungsstand“ beschrieben werden. Unter der Kapitelüberschrift „Bildung für die Besten – also für mich“ fasst Florin den Zusammenhang zwischen Bildung, Streit- bzw. Debattierkultur und Teilhabechancen zusammen. Laut dem 20. Sozialbericht des Deutschen Studentwerks hatte im Sommersemester 2012 jeder zweite Studierende Eltern mit Hochschule- oder Fachhochschulabschluss.

  • Bei 22 Prozent haben Vater und Mutter einen Universitätsabschluss,
  • bei 28 Prozent ein Elternteil.
  • 41Prozent werden als Herkunftsgruppe „mittel“ eingeordnet, das heißt, die Eltern haben einen nichtakademischen Beraufsabschluss.
  • Nur neun Prozent kommen aus Familien mit niedrigem formalen Bildungsstand. Ende der achtziger Jahre…stammten noch 26 Prozent aus dieser Niedrig-Bildungs-Gruppe und nur fünf Prozentpunkte mehr aus Familien mit mindestens einem Akademikerhaushalt. Nicht mal jeder Zehnte stammt aus einer Familie in der Bildung eine fremde Welt ist.“

„Die soziale Frage wirkt auf die Meisten (Studierenden) von Ihnen wie ein akademisches Konstrukt vergangener Tage. Social Media, Urban Gardening und Containern reichen als Ausweis sozialer Sensibilität. Occupy war eine zeitlang cool, aber es ist leichter, gegen die anonymen Finanzindustrie zu sein als für Mandy aus der Hartz-IV-Familie in Bonn-Dransdorf.“ „Der Glaube, dass Leistung sich lohnt, geht einher mit einem merkwürdigen sozialen Fatalismus. Mantramäßig haben  Bildungsforscher erklärt, dass in Deutschland die Herkunft über die Zukunft entscheidet.“ „Zu meiner Studienzeit galt verständliches Formulieren noch als unanständig, mittlerweile gewichtigen Hochschullehrer ihre Artikel und Interviews in Massenmedien höher als ihre Beiträge in Fachzeitschriften.“ „Diskussionen kommen deshalb nicht zustande, weil die Perspektive derer fehlt, die um Bildung existentiell kämpfen mussten und deshalb einen anderen Blick als die Konsensmehrheit riskieren könnten.“ 

Bildung sollte anders gehen.

Der Bolognaprozess, ein europäisches Projekt, hat die Leistungsausrichtung und damit die Vermarktung von Bildung stark beschleunigt. Da Europa jahrzehntelang Sozialpolitik auf Arbeitsmarktpolitik mit Wirtschaftsnähe reduziert hat, wundert das nicht, bestes Beispiel hierfür: das Schröder-Blair-Papier. Die hier postulierte Marktnähe hat sicher den Bildungsferneren mehrfach geschadet: bei der Bildungsreform, bei der Arbeitsmarktreform und bei der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Die Schere zwischen Arm und Reich ging weiter auseinander. Dabei müssen wir uns als Gesellschaft heute sehr viel mehr fragen, wie die Personen wieder beteiligt werden wollen, die wir so dringend brauchen. Auf dem Arbeitsmarkt, in den Universitäten, bei Wahlen. Zusammenlernen, – leben und -arbeiten. Das bildet uns. Sich miteinander auseinandersetzen (Streitkultur). Auch ein Beitrag zum sozialen Frieden. In den eigenen Kohorten leben, bringt unsere Gesellschaft überhaupt nicht mehr weiter. Ich hatte in den 70er Jahren einen überzeugten Grundschullehrer, der sich an den Lernschwächsten orientierte. Gar nicht so einfach. Vor allem ohne die anderen zu langweilen. Aber in diese Richtung muss es gehen. Wir brauchen eine Sprache, die alle erreicht. So dass alle mitreden können. Ohne meine eigene Berufsgruppe in den Vordergrund drängen zu wollen. Wir brauchen wieder mehr Pädagogik in der Lehre und weniger Wissensvermittlung. Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir (alle).

„Bildung ist ein Freiheitsversprechen. Wer sich bildet, überschreitet Grenzen: die seiner Herkunft oder die seines Landes oder die seiner Vorstellungskraft…Bildung hat demnach das Ziel, dem Menschen eine selbstbestimmte Existenz zu ermöglichen.“

*Alle kursiv gedruckten Texte sind Zitate aus dem Buch.

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