Spätestens seit dem 14. Kinder- und Jugendbericht gibt es eine fachliche Diskussion und ein Ringen darum, wie die Umsetzung der „Großen Lösung“ (alle Kinder und Jugendlichen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe) bzw. der „Inklusiven Lösung“ (Zusammenführung der Hilfen zur Erziehung und der Leistungen der Eingliederungshilfe als einem Leistungstatbestand) gelingen kann.
Bevor ich zu den Knackpunkten komme, sei gesagt, dass es grundsätzlich sehr erfreulich ist, dass das Vorhaben angepackt wird und es auch absolut zeitgemäss ist.
Was ist zu begrüßen?
- Alle Kinder und Jugendlichen werden unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe zusammengeführt und in erster Linie als Kinder und Jugendliche betrachtet.
- Kinder und Jugendliche sollen stärker beteiligt und Ombudschaften besonders gefördert werden.
- Stärkung der Pflegekinder und ihrer Eltern.
- Der Kinderschutz soll durch eine verstärkte Heimaufsicht sicher gestellt werden.
- Medienbildung und -kompetenz werden gesetzlich verankert.
Was sind die Knackpunkte?
In einer Entwurfsfassung von Juni 2016 zeichnen sich einige Knackpunkte der Reform ab, die zu einem Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe führen würden, wenn sie wie vorgeschlagen realisiert werden.
Zusammenführung der Erziehungs- und Eingliederungshilfe in einem Tatbestand.
Im zukünftigen § 27 SGB VIII soll der Tatbestand für alle Minderjährigen einheitlich gefasst werden. Man spricht dann hier von einem „Entwicklungs- und Teilhabebedarf“. Das Wort „Erziehung“ entfällt.
Es ist äußerst fraglich, ob ein Leistungstatbestand, der auch eine entsprechende Finanzierungsleistung nach sich zieht, den differenzierten Hilfebedarfen gerecht wird.
Gefahr der Aushöhlung des individuellen Rechtsanspruchs.
„Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ § 1 Kinder- und Jugendhilfegesetz
Üblich ist, dass im Hilfeplanverfahren eine individuelle Leistung bewilligt wird, für die eine Leistungsvereinbarung besteht und, die in der Leistungsvereinbarung mit einem freien Träger definiert ist.
Zukünftig soll es im Ermessen des Jugendamtes liegen, eine individuelle Hilfe oder Regelsysteme bzw. infrastrukturelle Angebote im Sozialraum zu nutzen. Wie kann so der individuelle Rechtsanspruch, der bisher zu den Grundfesten der deutschen Kinder- und Jugendhilfe gehörte, gewahrt bleiben?
Hilfeplan soll Leistungsplan werden.
Die Abkehr von dem Begriff „Hilfe“ wird damit begründet, dass hiermit eine ungleiche Beziehung impliziert sei: Bedürftiger und Helfender.
Orientiert an der Systematik des SGB XII, in dem von Leistungstatbeständen ausgegangen wird, wird aus dem Hilfeplan ein Leistungsplan.
Ist das wirklich das richtige Wort? Oder geht hier nicht das kooperative Ringen um den bestmöglichen Weg verloren? Dabei ist dies gerade für die Effizienz der Hilfen von besonderer Bedeutung.
Sozialrechtliches Dreiecksverhältnis vs. Ausschreibung.
Die Jugendämter sollen zukünftig zwischen verschiedenen Finanzierungsarten wählen können. Als eine dritte Finanzierungsart wird die Ausschreibung nach Vergaberecht in Aussicht gestellt. Das bedeutet nichts anderes, als dass Kommunen zukünftig aus dem sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis aussteigen. Frühere Erfahrungen wie die Zusammenlegung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe in 2002 zeigen, dass derartige Verfahren mittelfristig zu einem Qualitätsverlust bzw. zu einer Zerschlagung von Trägerstrukturen führen.
„Manches erinnert an die Anfänge einer Debatte, die viele längst hinter sich glaubten.“ Prof. Dr. Karin Böllert, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe in die Neue Caritas.
Elternanspruch nur als Annexleistung.
Im zukünftigen Gesetz haben die Minderjährigen den Leistungsanspruch und nicht die Eltern. Eltern können nur dann Leistungsansprüche erwerben, wenn das Kind einen Bedarf entwickelt. Das führt dazu, dass Symptome aber nicht Ursachen kuriert werden. Ein Rückschritt in der Kinder- und Jugendhilfe. Moderne Bildung und Erziehung arbeitet systemorientiert.
Angst vor der Kostenexplosion.
Das Budget von 2,4 Milliarden Euro für rund 260.000 Kinder und Jugendliche mit (drohender) geistiger und körperlicher Behinderung des SGB XII wandert von den Sozialämtern zu den Jugendämtern. Somit stehen insgesamt 11,1 Milliarden Euro zur Verfügung und das Jugendamt wird neben den Sozialämtern der größte Kostenträger. Dennoch fürchten Experten eine Kostenexplosion, da Kinder mit (drohender) geistiger und körperlicher Behinderung bisher keinen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung hatten. Freie Träger hingegen befürchten aus dem gleichen Grund eine Einschränkung der bisherigen Leistungen.
Die sogenannten Careleaver.
Grundsätzlich werden junge Menschen, die das 18. Lebensjahr erreicht haben, gestärkt, denn, wenn sie vor ihrer Volljährigkeit einen Hilfebedarf hatten, sollen sie zukünftig weiter gefördert werden können.
Das gilt nicht für junge Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung. Hier endet der Leistungsbezug.
Es gilt auch nicht für junge Menschen bei denen ein Bedarf möglicherweise erst nach der Vollendung des 18. Lebensjahres festgestellt wird.
Hier sollte grundsätzlich die Altersgrenze auf das 21. Lebensjahr angehoben werden.
Übergangsphase und Umbau der Jugendämter.
Für die Zusammenführung der Leistungssysteme ist eine Übergangsphase von fünf Jahren vorgesehen, so dass die Umsetzung tatsächlich erst zum 1. Januar 2023 abgeschlossen sein muss.
Dennoch ist zu befürchten, dass mit dem Start der Phase im Jahr 2017 mancherorts bereits entsprechend verfahren wird. Viele Jugendämter sind aber ohnehin überlastet. Hier gilt es besonders achtsam zu sein.
Klaus Peter Lohest, Abteilungsleiter Familie, Kinder und Jugend im rheinland-pfälzischen Familienministerium und Mitglied der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur SGB VIII Reform fordert daher in der Neuen Caritas:
„Die Prinzipien der Kinder- und Jugendhilfe, die unter anderem durch die Begriffe Rechtsanspruch, Wunsch- und Wahlrecht, Beteiligung, Aushandlungsprozess, Kooperation, einheitliche, nicht zwischen Personen differenzierte, Leistungsansprüche, Fachlichkeit, Leistungsplanung und -steuerung zum Ausdruck kommen, dürfen nicht verletzt oder in Frage gestellt werden.“
Weiterführende Links:
Position des Deutschen Caritasverbandes.
Synopse Novelle SGB VIII (Diakonie)
Florian Gerlach / Knut Hinrichs:
Eine erste Analyse des Entwurfs eines Reformgesetzes zum SGB VIII (Stand 06.07.2016)
Prüfsteine der Erziehungshilfefachverbände (u.a. BVKE)
Positionierung des Deutschen Caritasverbandes zu der Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung
Subsidiaritätsprinzip – Welfare mix – neue Subsidiarität (Norbert Wohlfahrt, Mai 2015)
Der § 35a als Leistungstatbestand der Jugendhilfe – Diplomarbeit
Teil 1: Wie kam es zu dieser Reform?
Die Kritik der Caritas an den Geheimplänen finden sich übrigens hier: http://bit.ly/2bOm63q