Literarischer Jahresrückblick 2016 & Ausblick

 

Noch beklagenswerter, als Worte es ausdrücken können, sind die armen Juden, deren verzweifelte Bitten um Visa und Einreiseerlaubnis hierhin und dahin ich jeden Tag lese. Ewig entwurzelt und heimatlos irren sie um den Erdball, soweit ich verstehe.

schreibt Astrid Lindgren am 13. Oktober 1940 in ihr Tagebuch.

Ihre Tagebücher, die sie im Zeitraum 1939 bis 1945 verfasste, wurden erst kürzlich herausgegeben. Der Titel entstammt ebenfalls einem Zitat der Tagebücher:

Die Menschheit hat den Verstand verloren

– von Astrid Lindgren

Die Tagebücher lesen sich erschreckend zeitgemäss angesichts der Kriege, die unsere Gegenwart erschüttern. Damals war Schweden ein Land, das der Krieg aussparte. Fast eine Insel der Glückseligkeit, so wie wir uns in Deutschland heutzutage auch manchmal vorkommen mögen angesichts des Terrors, der in der Welt geschieht.

Ich glaube,…dass es eine reine, unverdiente und unerhörte Gnade ist, das Fest in Ruhe und Frieden im eigenen Zuhause feiern zu dürfen… Wir haben uns wie üblich voll gefuttert, bis wir platzten. Wahrscheinlich sind wir das einzige Volk in Europa, das diese Möglichkeit hat, jedenfalls in dem Ausmaß. (28. Dezember 1940)

Es ist ein beeindruckendes Buch! Nicht nur wegen des Zeitraums über den sie schreibt, sondern auch wegen des Stils. Was für eine begabte Schreiberin Astrid Lindgren schon war bevor sie mit ihren Kinderbüchern Berühmtheit erlangte, merkt man daran, dass ihre Notizen so gut wie gar nicht überarbeitet werden mussten, um sie zu veröffentlichen. Besonders wegen der Parallelen zur heutigen Zeit, in der man auch immer wieder kopfschüttelnd wie Astrid Lindgren bemerken könnte:

Aber die Menschheit hat nun einmal komplett den Verstand verloren. (12. Mai 1942)

Unterm Rad

– von Hermann Hesse

Ein Schulmeister hat lieber einige Esel als ein Genie in seiner Klasse…seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heraus zu bilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner. (S. 90)

Dieser Bildungsroman von Hermann Hesse wurde im Jahr 1906 erstmals veröffentlicht. Arthur Eloesser kommentiert die Erstausgabe mit den Worten: „Der Roman enthält ungefähr eine Anleitung für Eltern, Vormünder und Lehrer, wie man einen begabten jungen Menschen am zweckmässigsten zugrunde richtet.“

Ein vergleichsweise dünnes Buch von knapp 170 Seiten, das die Seele berührt und erschreckt angesichts dessen, was Kindern damals (und heute?) angetan wurde, um sie von dem fern zu halten, wonach sie sich sehnten: freies Spiel in der Natur.

So müssen Sommerferien sein! Über den Bergen ein enzianblauer Himmel. Wochenlang ein strahlend heisser Tag am anderen, nur zuweilen ein heftiges, kurzes Gewitter. Der Fluss … war so erwärmt, dass man noch spät am Abend baden konnte. (S. 32)

Silicon Valley

– von Christoph Keese

Die Kundschaft..gibt, begeistert vom Ipod, die alte Treuebeziehung zum Plattenladen um die Ecke von einem auf den anderen Tag auf…Was heute der Plattenladen erlebt, widerfährt morgen (anderen) … Wir werden früher aus der Komfortzone verstoßen als wir denken. (S. 112)

Der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist Christoph Keese war 2013 ein halbes Jahr im Silicon Valley. Er beschreibt seinen Eindruck, der unterm Strich in der Aussage enden wird: Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden (Carly Fiorina). Mit einer erschreckenden Erkenntnis: Die sozialen Gegensätze werden offensichtlicher.

Die Zahl der Empfänger von Lebensmittelmarken hat ein neues Zehn-Jahres-Hoch erreicht, die Zahl der Wohnungslosen ist in zwei Jahren um 20 Prozent angestiegen, das Durchschnittseinkommen der spanischen Bevölkerung, ein Viertel der Bürger des Silikon Valley, ist mit 19000 Dollar im Jahr auf ein Tief gefallen. (S. 85)

In Deutschland macht sich ein Trend bemerkbar, der von der Süddeutschen mit „Wer Internet kann, ist privilegiert“ getitelt wird. Torsten Larbig von EdChat twittert dazu: „Internet muss man können. Wenn nicht, dann ist man schnell Bildungsverlierer. Smartphone allein reicht nicht.“

Ein spannendes Buch, das sehr dazu verhilft zu verstehen, vor welchen technologischen Zukunftsherausforderungen wir stehen und wie sehr sich unsere Organisations- und Kommunikationsstrukturen verändern werden.

Die Auflehnung

– von Siegfried Lenz

Und Willy erzählte aus einer anderen Welt, beschrieb ein komfortables, hölzernes Hotel, in dem die Teekoster aus Europa wohnten und schilderte einen Abend, an dem die empfindlichen Spezialisten, gutgelaunt nach zufriedenstellenden Abschlüssen, einen scherzhaften Wettbewerb veranstalteten… Mich jedenfalls konnte keiner reinlegen, sagte Willy…

Siegfried Lenz schreibt über zwei Brüder, die sich älter werdend der Frage stellen: Unterwerfung oder Auflehnung? Frank ist ein erfahrener Teichwirt und Willy ein international bekannter Teekoster. Beide sehen ihr Lebenswerk bedroht. Beide suchen nach Auswegen.

Virginia und Leonard Woolf

– von George Spater und Ian Parsons

So war fast über Nacht ein Hobby zum Geschäft geworden. Das muss auch Leonard so empfunden haben, denn er bestellte ein kupfernes Firmenschild für die Tür zu einem Preis von 10 Schilling 10 Pence.(S.151)

Was damals niemand voraussehen konnte, waren die Größe ihres späteren Erfolges und die Entwicklung der Hogarth Press, die 1917 in aller Stille gegründet wurde.    (S. 143)

Leonard und Virginia Woolf  haben 1917 quasi ein Startup, ihren eigenen Verlag, gegründet. Ganz einfach, in dem sie eine Druckmaschine gekauft haben, die Hogarth Press, so bezeichnet, weil die Maschine im Hogarth House stand. Der Verlag wurde zu einem der bedeutensten britischen Verlage für Belletristik.

Hierum geht es und um den Lebensstil des Intellektuellenpaars, das einzeln und zusammen als Schriftsteller, Verleger, Modernisierer und zentrale Gestalter der Bloomsbury Gruppe  Berühmtheit erlangte.

 

Bücherliste 2017

Deutschland digital

Unsere Antwort auf das Silikon Valley

– von Marc Beise und Ulrich Schäfer

Vertrauen: Genau darum geht es im Internet der Dinge – und ausgerechnet die Deutschen könnten dieses neue Gut schaffen, dessen Wert man im Silicon Valley nicht wirklich versteht. Nur wem die Kunden vertrauen, dass er ihre Daten sicher verwahrt, dem gehört auf Dauer die Zukunft. Und dafür haben die ängstlichen Deutschen einfach ein Händchen. Die Angst als Geschäftsmodell – ja, das kann funktionieren. (Berlin Valley)

Das Glasperlenspiel

– von Hermann Hesse

Hermann Hesses letztes großes Werk spielt in einer Zukunftswelt, in welcher er das Leben seines Helden Magister Ludi Josef Knecht ansiedelt. Auf die wesentlichen Charakteristika dieser Welt verweist der Namenszusatz ‚Magister Ludi‘, ein Wortspiel, da das lateinische Wort ‚ludus‘ sowohl ‚Schule‘ (ein magister ludi ist historisch ein Schulmeister) als auch Spiel (der Titel würde dann „Meister des Spiels“ heißen) bedeutet. (Wikipedia)

Armut in Deutschland

– von Georg Cremer

Armut in Deutschland“ heißt das Buch, in dem Cremer all seinen Frust über die falschen Zahlen und schiefen Vergleiche niedergeschrieben hat und seine Lösungsvorschläge aufzeigt. „Es hat mich mehr und mehr geärgert, dass wir eben über Armut nur in Form dieser folgenlosen Empörung sprechen“, sagt Cremer. Aus kleinen statistischen Schwankungen ein Riesenbohei machen, aber nicht darüber reden, was wir denn ganz konkret machen können, um die Armut einzugrenzen. (FAZ)

Die Fahrt zum Leuchtturm

– von Virginia Woolf

1925 vermerkte sie in ihrem Tagebuch: „… er wird ziemlich kurz werden; soll Vaters Figur völlig enthalten; und die Mutters; und die Kindheit; und all die üblichen Dinge, die ich hinein zu tun versuche, Leben, Tod, etc. Aber der Mittelpunkt ist die Figur Vaters …

In dieser anspruchslosen privaten Notiz kündigte sich die ganze Spannung des Romans schon an, der viel mehr geworden ist als eine Biographie der Eltern…Der Roman spielt in der gleichen Umgebung, in der Virginia Woolfs Jugenderinnerung das Bild der Eltern aufbewahrt hat: im Ferienhaus an der Küste, während der langen. Sommermonate. (Die Zeit)

Das Buch meines Lebens

– von Teresa von Avila

In ihrer Autobiographie gibt Teresa von Avila Einblick in ihren inneren Werdegang, ihre außerordentlichen geistigen Erfahrungen und ihren Weg in Gesellschaft und Kirche. (Klappentext)

 

Zum Weiterlesen:

Bücherliste 2015

Bücherliste 2016

 

 

 

9 Kommentare zu „Literarischer Jahresrückblick 2016 & Ausblick

    1. Ein paar Seiten habe ich schon gelesen. Mir gefällt, dass es eine fundierte Faktensammlung ist und die Historie der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Entwicklung wiedergibt.

  1. Danke für die tolle Zusammenstellung! Astrid Lindgren liegt auch schon auf meinem Nachttisch, Hermann Hesse hatte ich ein bisschen aus den Augen verloren, auf Georg Cremer bin ich gespannt!

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