Vor ein paar Jahren sagte mal jemand zu mir:
„ Sie treten in große Fußstapfen.“
Ich halte dieses Gerede über große Fußstapfen, mit Verlaub gesagt, für Quatsch. Denn jeder prägt seine Arbeit auf seine Weise. Es wird Menschen geben, die das großartig finden und welche, die es kritisieren.
Der Termin ist mitten rein gepurzelt.
Eine junge Frau möchte mit mir ein Interview für ihre Masterarbeit führen. Es geht um Erwerbsbiographien, Karrieren und den Begriff der Elite.
Ich soll einfach mal los plaudern.
Über die Kindheit, die Eltern, meinen Lebensweg.
Die Kunst, den eigenen (Führungs-)Stil zu finden.
Ich plaudere los und erinnere mich mit Erstaunen, dass ich mindestens über die ersten zehn Jahre meines Lebens sagen kann, dass ich ein sehr schüchternes, eher ängstliches, Kind gewesen bin. Das hatte ich schon beinahe vergessen.
Später war ich dann Klassen- und Schülersprecherin, ein Hinweis, dass ich Lust hatte, Führungsaufgaben zu übernehmen.
Aber auch mit 28 Jahren bei meinem Eintritt in die Caritas, hatte ich sehr viel Respekt vor der Institution, der Kirche, dem Umfeld.
Wohin es gehen sollte, wusste ich damals absolut nicht.
Und es war auch nicht wichtig.
Dann in den Folgejahren die Erfahrung: die Organisation braucht Leute wie mich, die quer denken, anders sind, das Establishment in Frage stellen.
So haben wir uns gegenseitig geprägt.
Ich kam damals für drei Jahre und blieb fast ein Vierteljahrhundert.
Die junge Frau fragt „Welche Charaktereigenschaften haben Sie?“
und „Welche Menschen haben Sie geprägt?“
Ist laut und gerne lachen eine Charaktereigenschaft? Manche wird es wahrscheinlich eher irritieren oder schockieren.
Irgendjemand hat über mich gesagt: „Ich mag Menschen.“ Ja, stimmt. Nicht alle. Aber fast.
Weitere Eigenschaften: Gestaltungsfreudig. Neugierig. Zukunftsorientiert.
Mich haben eine Hand voll Menschen geprägt und tun es bis heute. Menschen, die ich respektiere, weil sie authentisch ihre Überzeugung zum Ausdruck bringen, weil ich ihren Führungsstil großartig finde. Weil sie Herz haben und Menschlichkeit ausstrahlen. Dazu gehörten und gehören Frauen und Männer.
Wir lernen etwas zu tun, indem wir es tun.
John Holt, Pädagoge
Die erste Figur, die mich zutiefst und bis heute beeindruckt, war Pippi Langstrumpf. Dieses freche unabhängige Wesen, der ein Spaß mehr wert war als Disziplin und Ordnung. Auch, wenn ich glaube, dass ich eher eine Mischung aus Anika, ihrer Freundin, und Pippi Langstrumpf bin, hat sie die Entwicklung meines (Führungs-) Stils sehr gefördert.
Manchmal ermahne ich mich selbst ein bisschen: „Nun werde mal die Respektsperson, die Deinem Amt entspricht.“ Aber es hält meistens nicht lange an. Und allmählich scheine ich auch in der Zeit angekommen zu sein, wo dieser eher unübliche (Führungs-) Stil zeitgemäß geworden ist.
Die Interviewerin kommt mit dem Begriff Elite. Ob ich mich in meiner Position zur Elite zählen würde. Wow! So ein Begriff ist in der Caritas unüblich.
Eher ein Unwort.
Aber was ist Elite? Was bedeutet Elite für mich? Als ich über den Begriff nachdenke, kommt mir etwas ganz Altmodisches in den Sinn, was vielleicht zu dem Vorhergeschriebenen im Kontrast zu stehen scheint.
Elite bedeutet für mich: Gutes Benehmen.
Ein Mensch, der eine hohe Postion hat, hat eine besondere Verantwortung. Er ist ein Vorbild. Sein Verhalten hat Wirkung. Er sollte fair, höflich und achtsam im Umgang mit anderen sein.
Arbeiten ist, Kunstwerke zu schaffen.
Für mich war und ist meine Arbeit ein Kunstwerk. Ich knete, gestalte, werke und wirke und versuche das Bestmögliche aus dem heraus zu holen, das mir zur Verfügung steht.
Wie kann das sein? wird vielleicht mancher jetzt denken. Es geht doch um Geld, um Ressourcen, um Sicherheit und eben um all diese lauter ernsthaften Dinge.
Ja, geht es.
Und es geht um Zukunft. Und alle Komponenten gilt es qualifiziert zu verbinden. Es braucht Ideen, Leidenschaften und Kooperationen. Viele denken heute, wir könnten immer so weiter machen wie früher.
Aber die Zeiten sind vorbei.
Wir müssen etwas Neues schaffen. Und wie ein Künstler gibt es vielleicht eine Vision oder ein Bild wie das Neue aussehen kann, aber der Weg dorthin scheint noch unklar. Daher probieren wir eine Weile das Alte, das Bewährte. Aber das ist nicht die Lösung.
Wir müssen den Mut zum Neuen haben.
Wir müssen und dürfen Neues schaffen.
Jeder macht seine eigenen Fußstapfen und das ist gut so.
Auf das Gerede mit den großen Fußstapfen
habe ich damals geantwortet:
„Meine Nachfolger/innen auch.“
Meine Nachfolger/innen treten auch in große Fußstapfen, denn ich habe etwas Eigenes geschaffen, das meinem Stil entspricht. So wie andere das nach mir auch wieder tun und getan haben.
Denn irgendwann erschöpft sich auch der Stil des Besten/der Besten und dann braucht es einen anderen, einen neuen, Stil. Dann, wenn sich das Alte im Kreis dreht. Das habe ich bisher selten in meinem Leben gespürt, weil es in der jeweiligen Aufgabe immer viel zu tun gab. Aber mindestens 1x kam es vor, dass ich eine Aufgabe beendet habe und zwar ohne etwas Neues anzufangen.
Weil es einfach zu Ende war.
Ich konnte dieser Aufgabe keinen fruchtbaren Impuls mehr geben.
Die junge Frau erzählt mir am Schluss, dass sie selbst noch auf der Suche ist. Wieviel Beruf verkraftet eine Familie? Wie soll das Leben organisiert werden, wenn es doch so viele Möglichkeiten bereit hält?
Sie wird eigene Fußstapfen hinterlassen.
Und dann wird vielleicht eines Tages jemand zu ihr sagen: „Du hinterlässt große Fußstapfen …“
Aber das ist eigentlich Unsinn.
Es ist immer eine Ansichtssache, wie gross ein Fussabdruck ist und wie jemand eine Rolle ausführt. Gerade Frauen haben viel zuviel Respekt vor grossen Rollen/ Fussprints. Um die Gesellschaft zu verändern braucht es uns alle, ob Mann oder Frau, Diversität stärkt uns auf allen Ebenen.
Es gefällt mir sehr gut, dass Frauen Verantwortung übernehmen, sich solidarisieren und an ihren Aufgaben wachsen. Was Kirche angeht, wünschte ich mir eine veränderte Unternehmenskultur. Weniger Macht, weniger Hinterzimmerentscheidungen, mehr Transparenz, mehr WOL, mehr agiles Arbeiten. Würde uns auch gut stehen. Damit das klappt, brauchen wir Vorbilder aus den eigenen Reihen. Die machen dann diverse Fußabdrücke in den Lehm der Geschichte. Auf geht `s.
^^ Wer wohl dieses Interview geführt hat?
Ja! Interessanterweise wurden die Interviews mit Frauen und Männern geführt. Es ging nicht speziell um weibliche Karrieren.
Liebe Sabine, Deine reflektierenden Erinnerungen: super lesenswert! Interessant, wie Du Elite definierst. Deine Kritik an der Formel der „großen Fußstapfen“: Zustimmung bzgl. des je neuen, individuellen Stils jeder Nachfolge. Allerdings ist mit „großen Fußstapfen“ ja etwas anderes gemeint: wenn prägende Wirkkraft, nachhaltige Wirkung und wertgeschätzte Performance der Vorgänger*in die unwillkürliche Messlatte sind für Erwartungen/Hoffnungen an die Nachfolge-Person. – Danke für Deine inspirierenden Texte!
Nur wer sagt, dass dies die richtige Definition ist, lieber Kai. 😊
Immer wieder erfrischend, Ihr Stil, Ihr Mut und Ihre Zuversicht.
Herzlichen Dank!
…ist es nicht super, wenn Menschen mit elementaren Fragen an einen herantreten und man auf diese Weise an die Möglichkeit der Selbstrefelektion erinnert wird …in diesem Beispiel ist der Impuls von aussen gekommen …für diese Impulse sollten wir dankbar sein …Lernen wir also durch Fragen wieder mehr Impulse zu setzen…Vielen Dank für diesen lesenswerten Text…werde heute noch anderen Fragen stellen ….
Pippi Langstrumpf hatte auch große Galoschen…..also passt‘ doch😁
Mit dem Begriff der großen Fußstapfen soll meines Erachtens oft eingeschüchtert und zudem dafür gesorgt werden, dass der Nachfolger oder die Nachfolgerin auf jeden Fall versucht weiterzuführen, was bisher gemacht wurde. Denn wer sich beständig darauf konzentriert, die Fußstapfen auszufüllen, wird kaum den Kopf frei haben für eigene Ideen. Das Gegenstück zu den Fußstapfen ist das Verlassen ausgetretener Pfade, das viel mehr Mut verlangt und neue Chancen birgt. Deshalb kann ich allen nur empfehlen, sich von Fußstapfen nicht einschüchtern zu lassen und den eigenen Weg zu suchen – auf dem man vielleicht die erste Person ist, die überhaupt einen Fußabdruck hinterlässt.
Liebe Sabine, ich stimme Dir deshalb 100 Prozent zu. Und gerade Frauen müssen das Selbstbewusstsein entwickeln zu sagen, sie wollten ihre eigenen Fußstapfen hinterlassen.
Liebe Sabine,
das Gerede von den großen Fußstapfen impliziert, dass sich nichts ändern soll. Wer jemandem nachfolgt, soll ja in die Spuren des Vorgängers oder der Vorgängerin treten. Warum sagen die wenigsten Menschen: „Ich bin gespannt auf die Fußabdrücke, die Du hinterlassen wirst“? Als ich bei einem Arbeitgeber einmal den Wunsch äußerte, eine bestimmte Position einzunehmen – ich war noch keine 30, hatte aber einige Erfolge aufzuweisen – sagte mein Chef, die Schuhe des Vorgängers seien zu groß. Ich antwortete, ich hätte auch vor, den Weg in meinen eigenen Schuhen zu beschreiten, Schuhen, die nicht nur für mich passten, sondern für Trittsicherheit auf jedem Untergrund sorgen würden, da ich gedächte, ausgetretene Pfade zu verlassen. Es sorgte für Schnappatmung. Ich bekam den Job nicht und kündigte. Was für mich folgte, war ungleich erfüllender.
Liebe Grüße und Danke für Deine inspirierenden Gedanken
Jt
Liebe Jacqueline, danke für die Teilhabe an Deinen persönlichen Erfahrungen. Sehe ich auch so. Zumal sich ja auch die jeweiligen Zeiten ändern und die Vorgänger andere Herausforderungen hatten. Ich habe immer Leitungen geschätzt, die Talente zu fördern wussten und keine Angst vor zu kompetenten Mitarbeiterinnen hatten. Liebe Grüße Sabine